Die Mehrstimmrechtsaktie – Neuauflage einer alten Bekannten

Corporate 20.04.2023

Das Bundesfinanz- und das Bundesjustizministerium haben am 13.4.2023 einen Gesetzentwurf für das Zukunftsfinanzierungsgesetz (nachfolgend „Ref-E“) veröffentlicht, dessen Eckpunkte bereits Mitte 2022 vorgestellt wurden. Neben den Vorschlägen zu einer Reform der ESOP-Besteuerung (Link s. Appendix), enthält der Entwurf auch eine wesentliche Änderung im Aktienrecht: Die Möglichkeit von Aktien mit einem Mehrstimmrecht, also mit mehr als einer Stimme pro Aktie.

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Katharina Erbe Teaser
Rechtsanwältin Corporate/M&A
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Rechtsanwalt Corporate/M&A und Prokurist

Das Gesetz verfolgt das Ziel, den deutschen Kapitalmarkt leistungsfähiger und attraktiver zu gestalten. Insbesondere für Startups soll der Zugang zum Kapitalmarkt und die Attraktivität eines Börsengangs über eine deutsche Aktiengesellschaft gefördert werden. Insgesamt erscheinen die Regelungen im Ref-E als durchaus fundamentale, aber dennoch behutsame Anpassung des Aktienrechts.

1. Aktuell ist im Aktienrecht kein Mehrstimmrecht möglich - das war allerdings nicht immer so

Im Gegensatz zur GmbH oder der europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europae (SE)) ist es bei einer deutschen Aktiengesellschaft derzeit nicht möglich, Aktien mit einem Mehrstimmrecht auszustatten. Es gilt insofern im Grundsatz “one share, one vote”. Lediglich Vorzugsaktien können auch komplett stimmrechtslos gestellt werden, sind dann allerdings mit anderen Vorrechten, wie zum Beispiel einem Recht auf eine höhere Dividende, ausgestattet.

In der ferneren Vergangenheit war dies allerdings nicht immer so. Im ursprünglichen deutschen Aktienrecht war die Regelung eines erhöhten Stimmrechts in der Satzung weitgehend unbeschränkt möglich.

Als Hauptargument gegen Mehrstimmrechte wurde insbesondere der Anleger- und Minderheitenschutz angeführt. Denn im Gegenzug zu Aktien mit erhöhtem Stimmrecht haben die verbleibenden Aktien zwangläufig eine im Vergleich zu ihrer wirtschaftlichen Beteiligung verminderte Entscheidungsmacht. Dies kann dann zu Folgeproblemen führen: Die Entnahme privater Gewinne durch einen kontrollierenden Anteilseigner, die Blockade bestimmter Entscheidungen oder auch generell die Fokussierung auf Interessen des kontrollierenden Aktionärs. Aktionäre mit erhöhtem Stimmrecht treffen daher nicht immer Entscheidungen, die für das Unternehmen sinnvoll sind, da die eigene Entscheidung nicht proportional auf eigene Rechnung getroffen wird.

2. In anderen Rechtsordnungen gibt es Mehrstimmrechte – mit zunehmender Tendenz

Die fehlende Möglichkeit von Mehrstimmrechtsaktien wird aktuell als Nachteil der deutschen Rechtsordnung wahrgenommen. Dies macht die deutsche Aktiengesellschaft gegenüber anderen Märkten unattraktiver, die solche Möglichkeiten anbieten, (z.B. Schweden, die Niederlande oder die USA). Es gibt daher im Kern deutsche Unternehmen, die sich aus diesem Grund für eine ausländische Rechtsform entschieden haben: Sowohl der Hotelvermittler Trivago als auch der Flugtaxientwickler Lilium haben sich beide für niederländische N.V. entschieden, die Mehrstimmrechtsaktien ermöglicht.

Weitere Jurisdiktionen wie Österreich, Belgien oder Portugal haben sich in letzter Zeit ebenfalls hinsichtlich Mehrstimmrechtsaktien geöffnet. Prominente Beispiele für ausländische Unternehmen mit Mehrstimmrechtsaktien sind Airbnb mit einem Stimmgewicht von 20:1 oder Facebook mit einem Stimmgewicht von 10:1.

Die Möglichkeit von Mehrstimmrechtsaktien kann den Startup Standort Deutschland stärken. Viele Startups haben bereits vor einem Börsengang mehrere Finanzierungsrunden mit Investoren durchlaufen. Durch die damit einhergehende Verwässerung (und die weitere Verwässerung durch einen Börsengang) halten Gründer daher häufig bei einem Börsengang nicht mehr die erforderlichen Stimmrechte, um maßgebliche Entscheidungen des Unternehmens entscheidend mitbeeinflussen zu können. Die Folge: Deutsche Startups vermeiden einen deutschen Börsengang und ziehen eher einen Verkauf oder einen Börsengang im Ausland vor. Durch die Einführung von Mehrstimmrechtsaktien können die Gründer ihren Einfluss auf das Unternehmen wahren und trotzdem am Kapitalmarkt das benötigte Kapital einsammeln.

Auch von Seiten der EU wird das Thema Mehrstimmrechtsaktien zunehmend gefördert. Die EU-Kommission hat im Dezember 2022 den Entwurf eines “Listing Acts” vorgestellt, der unter anderem eine Richtlinie für Mehrstimmrechtsaktien bei Gesellschaften im KMU-Segment beinhaltet. Ziel ist eine Mindestharmonisierung von Mehrstimmrechten bei gleichzeitiger Wahrung des Anleger- und Minderheitenschutzes über geeignete Sicherungsmechanismen erreicht werden.

3. Mehrstimmrechtsaktien sollen nach dem Ref-E wieder zugelassen werden – allerdings mit Einschränkungen

Das Ref-E sieht nun eine Abkehr vom grundsätzlichen Verbot der Mehrstimmrechtsaktien vor. Zukünftig sollen Aktien mit Mehrstimmrechten als eigene Gattung und grundsätzlich flexibel ausgestaltet ausgegeben werden können. Eine Beschränkung des Personenkreises, der Inhaber der Mehrstimmrechte sein kann, ist nicht geplant. Anders ist dies beispielsweiße in Großbritannien, wo die Mehrstimmrechte auf Mitglieder der Unternehmensleitung beschränkt sind. Allerdings sind einige Einschränkungen vorgesehen, sodass der Minderheitenschutz nicht völlig ausgehöhlt werden kann.

Beschränkung auf Namensaktien - Die Einräumung von Mehrstimmrechten soll nur bei Namensaktien zulässig sein. Hierdurch soll sichergestellt werden, dass die Mehrstimmrechte gerade den Personen zukommen, deren Einfluss auf das Unternehmen gestärkt bzw. erhalten werden soll.

Verhältnis 1:10 - In der Höhe wird das Mehrstimmrecht nach dem Ref-E auf maximal ein zehnfaches Stimmrecht begrenzt. Eine solche Obergrenze ist international zum Minderheiten- und Anlegerschutz weit verbreitet und stellt sicher, dass die Inhaber der Mehrstimmrechte für die Kontrolle zumindest einen relevanten Anteil am Grundkapital halten müssen.

Zeitlich nicht unbegrenzt - Außerdem vorgesehen sind Verfallsklauseln (auch: Sunset-Klauseln). Der Ref-E sieht zum einen eine zeitbezogene Sunset-Klausel vor, welche die Mehrstimmrechte auf 10 Jahre nach Börsengang (mit einmaliger Verlängerungsmöglichkeit) beschränkt. Diese Regelung trägt dem Gedanken Rechnung, dass mit Mehrstimmrechtsaktien vorrangig der Börsengang selbst durch einen Schutz des Einflusses der Gründer in der Übergangszeit erleichtert werden soll.

Wegfall nach Anteilsübertragungen - Zum anderen ist auch eine ereignisbezogene Sunset-Klausel im Ref-E zu finden. Demnach sollen bei Übertragung einer Aktie deren Mehrstimmrechte entfallen, da eine derartige Übertragung oftmals auch mit dem Wegfall des Kontrollbedürfnisses der bestimmten Personen einhergeht.

Zustimmungserfordernis - Die Einführung der Mehrstimmrechte bedarf der Zustimmung aller betroffenen Aktionäre. Im Ergebnis bedeutet dies eine Zustimmungspflicht aller Aktionäre, da sowohl Aktieninhaber ohne Mehrstimmrechte als auch Aktieninhaber mit Mehrstimmrechten aufgrund der proportionalen Verschiebung ihrer Stimmrechte betroffen sind. Dies führt effektiv dazu, dass eine Einführung von Mehrstimmrechten nur vor Börsengang durchführbar ist, denn nach einem Börsengang wird eine Einstimmigkeit praktisch nicht mehr erzielbar sein.

4. Die vorgeschlagenen Regelungen steigern die Attraktivität des Börsenstandorts Deutschland

Mit den im Ref-E vorgeschlagenen Neuregelungen zu Mehrstimmrechtsaktien würde der Börsenstandort Deutschland im internationalen Vergleich wieder deutlich wettbewerbsfähiger - ohne jedoch Anleger- und Minderheitenschutz komplett aus den Augen zu verlieren. Nur die Praxis wird zeigen können, ob solche Gestaltungsmöglichkeiten wahrgenommen werden und zu einem spürbaren Anstieg der Börsengänge von Startups und KMU über eine deutsche Aktiengesellschaft führen. Die angedachten Einschränkungen erscheinen auf den ersten Blick aber durchaus als praxistauglich.


Mehr zum Thema: Alles über den Gesetzesentwurf zum Zukunftsfinanzierungsgesetz haben wir in unserem Blogbeitrag "ESOP-Besteuerung nach dem Zukunftsfinanzierungsgesetz" zusammengefasst.