Mehrstimmrechte in der AG – eine Gestaltungsoption für Gründer und Investoren
Wachstum erfordert Kapital – und Kapital kostet Beteiligung. Gründer verlieren im Zuge von Finanzierungsrunden daher häufig einen erheblichen Teil ihrer wirtschaftlichen Anteile. Damit geht nicht selten das Risiko einher, auch an unternehmerischer Kontrolle einzubüßen. Die gute Nachricht: Wer eine Aktiengesellschaft (AG) als Rechtsform wählt, kann sich durch sogenannte Mehrstimmrechte strategisch absichern. So bleibt die unternehmerische Steuerung auch bei sinkendem Kapitalanteil in der Hand der Gründer. In diesem Beitrag erklären wir, wie das funktioniert, was rechtlich zu beachten ist und warum der richtige Zeitpunkt entscheidend ist.
- Dr. Cornelius Karcher Rechtsanwalt
Mehrstimmrechte: Kontrolle sichern trotz Verwässerung
1. Die typische Gründerherausforderung
Start-up-Gründer bauen ihr Unternehmen regelmäßig mit erheblichem persönlichem Einsatz, Zeitaufwand und nicht selten auch eigenen finanziellen Mitteln auf. Doch mit jeder neuen Finanzierungsrunde geben sie Anteile ab, oft in einem nennenswerten Umfang, in späteren Runden auch bis an die Grenze der Kapital- und Stimmenmehrheit. Das ist unvermeidlich, denn den meisten Start-ups gelingt das erwünschte Wachstum nur mithilfe von Venture Capital; selbstfinanziert schaffen es nur wenige in die Skalierungsphase.
Aber: Wer bei der Series A noch 80 % hält, könnte nach Series B oder C unter die ¾ Mehrheit und dann Richtung einfache Mehrheit sinken. Die Folge: Gründer laufen Gefahr, die Kontrolle über das eigene Unternehmen zu verlieren. Damit verlieren sie die Möglichkeit, die ursprüngliche Vision eigenbestimmt weiterzuverfolgen.
2. Eine Lösung: Mehrstimmrechte
Die Rechtsform der AG bietet eine interessante Antwort auf dieses Dilemma: die Einführung von Mehrstimmrechten. Damit lässt sich die Anzahl der Stimmen von der Anzahl der Aktien entkoppeln.
Konkret heißt das: Eine Aktie kann mehr als eine Stimme vermitteln. Wer solche Mehrstimmrechte hält, hat bei Gesellschafterentscheidungen mehr Einfluss, als es seinem wirtschaftlichen Anteil eigentlich entspricht.
Beispiel: Ein Gründer hält kurz vor einem Exit nur noch 20 % der Aktien diese sind jedoch mit einem zehnfachen Mehrstimmrecht ausgestattet. Damit kontrolliert er 71,4 % der Stimmrechte und bleibt entscheidungsfähig.
3. Die rechtliche Grundlage
Mehrstimmrechte sind in Deutschland ausdrücklich zulässig – allerdings ausschließlich in der Aktiengesellschaft und in der SE (Europäische Aktiengesellschaft). Die gesetzliche Grundlage findet sich in § 12 Satz 2 AktG. Danach können Aktien mit mehrfacher Stimmkraft ausgegeben werden. Hierfür bedarf es einer Satzungsregelung, wie sich aus § 135a Abs. 1 Satz 1 AktG, aber auch schon aus § 23 Abs. 3 Nr. 4 AktG ergibt.
Nicht zulässig sind Mehrstimmrechte in der GmbH. Dort gilt weiterhin zwingend eine Stimme pro Geschäftsanteil. Wer Mehrstimmrechte nutzen will, muss also von vornherein die Gesellschaftsform der AG oder SE wählen oder später einen Formwechsel nach dem Umwandlungsgesetz vollziehen.
4. Gestaltungsüberlegungen für Gründer
Die Einführung von Mehrstimmrechten sollte frühzeitig überlegt und rechtlich sauber vorbereitet werden. Im besten Fall erfolgt sie bereits bei Gründung der AG, denn ein Beschluss der Hauptversammlung zur Ausstattung oder Ausgabe von Aktien mit Mehrstimmrechten bedarf der Zustimmung aller betroffenen Aktionäre (§ 135a Abs. 1 Satz 3 AktG). Damit sind alle Aktionäre mit Stimmrecht gemeint – es bedarf insbesondere nicht der Zustimmung von Aktionären mit Vorzugsaktien. Der Beschluss muss einstimmig gefasst werden.
Bei der Ausgestaltung von Mehrstimmrechten sollten Gründer folgende Punkte berücksichtigen:
- Stimmrechtsverhältnis festlegen: Wieviel Stimmen soll eine Mehrstimmrechtsaktie gewähren? Maximal möglich sind zehn Stimmen pro Mehrstimmaktie, § 135a Abs. 1 Satz 2 AktG.
- Transparenz für Investoren schaffen: Klare Kommunikation und Erläuterung der Governance-Struktur sind entscheidend.
- Verknüpfung mit anderen Rechten: Mehrstimmrechte können mit Vinkulierungen (Veräußerungsbeschränkungen), Pooling etc. verbunden werden.
- Rechtsformwahl strategisch planen: Wer ohnehin eine Umwandlung in die AG plant, um perspektivisch kapitalmarktfähig zu sein, sollte Mehrstimmrechte frühzeitig mitbedenken.
Für börsennotierte Gesellschaften sowie in den Freiverkehr einbezogene Aktien gelten die Sonderregeln des § 135a Abs. 2 AktG, z.B. erlöschen hier die Mehrstimmrechte im Falle der Übertragung der Aktie und in jedem Falle spätestens zehn Jahre nach Börsennotierung der Gesellschaft.
5. Chancen und Grenzen
Da Mehrstimmrechte eine eigene Gattung darstellen, bedarf es für bestimmte Maßnahmen, insbesondere Kapitalmaßnahmen nach § 182 Abs. 2, 222 Abs. 2 AktG, einen Sonderbeschluss dieser Gattung. Faktisch haben die Halter von Mehrstimmrechten damit ein Vetorecht für bestimmte Maßnahmen. Besonders wirkmächtig sind Mehrstimmrechten daneben bei Beschlüssen, die keine Kapitalmehrheit erfordern, wie z.B. Gewinnverwendungsbeschlüsse oder die Bestellung von Aufsichtsratsmitgliedern (und damit mittelbar von Vorständen).
Es gilt aber auch: Wesentliche Gestaltungsmittel erfordern (auch) eine Kapitalmehrheit. Auch bei der Bestellung des Sonder- oder Abschlussprüfers vermitteln Mehrstimmaktien nur eine Stimme (§ 135a Abs. 4 iVm. § 119 Abs. 1 Nr. 5 und § 142 Abs. 1 AktG).
Mehrstimmrechte können also bei der Abwehr von unerwünschten Veränderungen der Gesellschaft helfen, eine Gestaltungmacht gegen die Kapitalmehrheit ist damit aber nicht zu erreichen.
6. Fazit: Kontrolle strategisch absichern
Mehrstimmrechte sind kein Allheilmittel – aber ein wirkungsvolles Instrument. Sie ermöglichen Gründern, unternehmerisch die Zügel in der Hand zu behalten, auch wenn der Cap Table auf den ersten Blick eine andere Sprache spricht.
Wer frühzeitig die richtige Rechtsform wählt und die Satzung klug gestaltet, kann sich mit Mehrstimmrechten für spätere Wachstumsphasen strategisch absichern. Für Gründer, die an ihrer Vision festhalten und das Unternehmen langfristig führen möchten, ist das eine Überlegung wert.
Empfehlung: Gründer sollten im Rahmen der nächsten Finanzierungsrunde oder einer geplanten Umwandlung prüfen lassen, ob und in welcher Ausgestaltung Mehrstimmrechte ein geeignetes Steuerungsinstrument darstellen können.